Verdrehte Welt

Der Winter naht und somit unsere „Urlaubszeit“. Fast zwei Monate können wir ohne großen Aufwand vom Hof weg, uns erholen und anderen Hobbys nachgehen, die unterm Jahr zu kurz kommen. Eine Frage, die dann immer auftaucht: Fliegen wir in den Süden?
Wir beide lieben heißes Sommerwetter, hier genauso wie am Mittelmeer oder in den Tropen. Die dunklen Monate hingegen sind vor allem für mich immer eine große Herausforderung. Hinzu kommt unsere Neugierde für kulturellen Austausch: wir lieben es beispielsweise auf anderen Höfen mitzuarbeiten und die Lebensrealität anderer Menschen kennen zu lernen.

Und dennoch sind wir seit zehn Jahren in kein Flugzeug mehr gestiegen. Ich bin versucht zu schreiben, wir „verzichten“ darauf, so als hätten wir ein Anrecht aufs Fliegen. Tatsächlich ist es ein enormer Luxus, den nur wenige Menschen weltweit haben. Auch wenn es in unserem Umfeld scheint, als würden es „eh alle machen“ – die Zahlen sprechen dagegen: Im Jahr 2018 waren es nach Schätzungen 11% der Menschheit, die jemals in ein Flugzeug gestiegen sind. Viele davon fliegen nur einmal im Jahr. Mehr Flüge pro Jahr gönnen sich ca. 1% der Weltbevölkerung. Dieses eine Prozent ist dementsprechend auch für fast alle CO² Emissionen des Flugverkehrs verantwortlich. Diese sind bekanntlich viel zu hoch und führen unter anderem zu den Konsequenzen der Klimakrise, die in immer mehr Ländern immer spürbarer wird. Die schlimmsten Folgen davon spüren hauptsächlich die Menschen im globalen Süden, die sehr wenig bis gar nicht fliegen. Wie denn auch? So mancher indischer Bauarbeiter müsste etwa für sechs Jahre sieben Tage pro Woche arbeiten, nur um sich ein Flugticket leisten zu können. Jahrhunderte des (Neo)kolonialismus haben dafür gesorgt, dass die Weltordnung so funktioniert. Jedes Jahr spitzt es sich mehr zu: laut Oxfam besitzen 8 Personen mehr Vermögen als die ärmeren 50% der Weltbevölkerung. Und etwa 3000 Personen so viel wie die restlichen 99 Prozent.

Das Unrecht ist nicht neu – doch steigert sich die Dramatik: weltweit gab es nie so viele Klimaflüchtende wie heute. Sind die Gletscher des Himalayas in einigen Jahrzehnten vollständig verschwunden, haben 1,5 Milliarden Menschen in Indien und China kein Süßwasser mehr. Steigt der Meeresspiegel in den nächsten 100 Jahren um die prognostizierten 1-2m stehen viele Millionenstädte weltweit plötzlich unter Wasser. … Die Liste der Bedrohungen ist lange und ich halte es kaum mehr aus davon zu lesen – und ich will es auch gar nicht mehr teilen – und dennoch kann ich nicht anders, wenn ich fast täglich mit Ignoranz, Verharmlosungen, Ausreden, Argumente für ein „Weiter-Wie-Bisher“ konfrontiert bin. Am schlimmsten ist es, wenn die Welt verdreht wird: „die faulen Südländer kommen und nehmen uns den hart verdienten Wohlstand weg.“ Was soll man da noch sagen? In Realität ist es seit Jahrhunderten genau umgekehrt.

Was aber muss sich ändern? Die obigen Zahle sprechen eigentlich für sich. Es ist extremer und nicht rechtzufertigender Reichtum, der unser aller Welt zerstört. Nur wenn wir dieses Reichtums-Problem lösen, kann es für alle anderen und fürs Klima besser werden. Es gibt viele Vorschläge in Richtung Gemeinwohl-orientierte Wirtschaftspolitik. Der erste Kampf, den wir gewinnen müssen ist der, gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit des aktuellen Systems. Hier sind alle gefragt: Entscheidungsträger*innen, Bürger*innen, Medien. Wir müssen das Problem beim Namen nennen und über Alternativen sprechen.

Auf etwas aus ethischen Gründen zu „verzichten“ ist nicht einfach, wenn man glaubt damit allein zu sein. Es ist etwas leichter, wenn man weiß, Teil einer globalen Mehrheit zu sein, die Klimagerechtigkeit einfordert.

Tobias Schlagitweit


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