Schon seit einigen Wochen hängen bei uns im Paradeiser-Tunnel kleine Stoffsäckchen auf einzelnen Blütenständen. Wenn die Bestäubung der Blüte geklappt hat, befinden sich darunter Früchte und sie können wieder ausgepackt werden. Von diesen Früchten können wir zu 99 Prozent sagen können, dass deren Samen sortenrein und unverkreuzt sind – also bestens geeignet, um sie nächstes Jahr für unseren Jungpflanzenverkauf zu säen.
Man kann Paradeiser auch ohne Isolierung der Blüte vermehren, jedoch wächst so über die Jahre die Gefahr der Sorten-Verkreuzung, sofern in engem Abstand andere Paradeiser-Sorten stehen die ebenfalls blühen. Denn Paradeiser können in seltenen Fällen auch von Insekten oder sogar Wind bestäubt werden: Wenn der Wind eine Blüte bewegt, der Pollen dieser Blüte durch die Luft gewirbelt wird und zufälligerweise auf dem Blütenstempel (weibliches Geschlecht) einer anderen Blüte landet ist eine Fremdbestäubung möglich. Das passiert sehr selten. Ein bisschen wahrscheinlicher ist es bereits, wenn z.B eine fleißige Hummel gerade von Blüte zu Blüte fliegt und dabei Pollen auf ihren Beinchen auf eine andere Blüte transportiert.
Paradeiser sind jedoch überwiegend selbstbestäubend – das heißt eine einzelne Blüte kann mit ihrem eigenen Pollen bestäubt werden. Das passiert oft sogar bereits, bevor die Blüte sich überhaupt öffnet. Unterstützend dabei ist, wenn Wind oder eine Menschliche Hand den Blütenstand leicht schüttelt. Genau das machen wir uns zunutze mit der Blütenisolierung: wir verhindern durch das Säckchen, dass eine Fremdbestäubung passiert und unterstützen durch schütteln die Selbstbestäubung. Genauso könnte man selbst von Hand bestäuben, um sicher zu gehen, dass der richtige Pollen auf dem richtigen Stempel landet. Das ist jedoch aufwendiger. Wer aber Lust hat sich darin auszuprobieren: Auf die selbe Art uns Weise könntet ihr auch eure eigene Zuchtlinie entwickeln: Durch gezieltes Kreuzen von zwei Sorten. Das Ergebnis ist dann aber vorerst eine F1 Hybride. Aus dieser Hybride wieder eine samenfeste Sorte zu züchten ist jahr(zehnt)elange Arbeit. Der Prozess ist aber sicherlich spannend und bringt in den ersten Jahren immer leicht veränderte Früchte hervor, wo man immer jene zum Weiterzüchten verwendet, die einem am meisten zusagen.


Auch von ein paar anderen Dingen nehmen wir dieses Jahr Samen: Von diversen Kräutern, Blumen, von Gurken, Melanzani und Mais… Das hat mehrere Gründe: Von manchen Sorten die wir kultivieren ist es schwer Saatgut zu bekommen. Da ist es naheliegend unsere Pflanzen am Feld selbst zu vermehren. Außerdem kommt es bei einer Vermehrung über Jahren am selben Standort irgendwann zu einer gewissen Standort-Angepasstheit. Das wiederum bedeutet, dass die Pflanze sich genetisch an unsere Klimazone anpasst und somit resilienter gegenüber regionsspezifischen Klimaeinflüssen werden kann.
Saatgut zu vermehren und darüber zu sprechen, andere zu informieren ist letztlich auch eine politische Arbeit: In vielen Ländern herrscht ein Kampf um die Rechte der Saat. Etwas was eigentlich Kulturerbe sein sollte und zugänglich für alle Menschen, wird vierlerorts privatisiert und patentiert. Daraus resultiert Abhängigkeit von großen Saatgut Konzernen und dazu, dass alte lokal-angepasste, samenfeste Sorten verloren gehen.

Wieso ein Kulturerbe? Unsere Kulturpflanzen wie wir sie heute kennen haben eine Jahrhunderte lange Geschichte der Selektion hinter sich. Selektion bedeutet die Auslese nur der gesündesten Pflanzen und der schönsten und geschmacklich besten Früchte, Wurzeln etc. Jeder Mensch der schon einmal eine wilde Karotte gesehen hat kann nur erahnen was das bedeutet: Wenn aus einer millimeter dünnen, herben Wurzel, eine schön saftige, zarte, große, orange, süße Karotte, wie wir sie heute kennen, entstehen soll, braucht das Zeit. Diese Selektions- und Vermehrungsarbeit war also harte Arbeit von vielen vielen Generationen vor uns. Einzig allein deshalb haben wir heute so eine Vielzahl an Kulturen und Sorten die nährstoffreich, ertragreich, lecker und schön zugleich sind.
Bis vielleicht morgen beim Marktstand, liebe Grüße und bis bald,
Rosa