Über diese Frage habe ich die Woche viel nachgedacht. Eigentlich hatten wir ja vor uns sobald wie möglich zertifizieren zu lassen – der Hof wurde von meinen Eltern immer nach biologischen Maßstäben bewirtschaftet und auch wir tun das weiterhin. Die meisten wissen, dass es auch Förderungen für „Biologische Wirtschaftsweise“ gibt – warum also zögern?
Zuerst einmal: Zertifizierung passiert nicht von heut auf morgen. Wer im Vorjahr nicht Bio war, ist es auch die kommenden zwei Jahre noch nicht. Sobald ein Kontrollvertrag abgeschlossen wird, ist man ein Jahr lang ein „konventioneller“ Betrieb, dann ein Jahr lang ein „Umstellbetrieb“ und erst im dritten Jahr Bio. Die Zertifizierung kostet allerdings von Anfang an Geld. Konventionelle Betriebe haben diesen Aufwand natürlich nicht.
Hier stellt sich für mich oft die erste Grundsatzfrage: Warum vertraut man den konventionellen Betrieben und Bio Betrieben nicht? Warum haben nur Bio Betriebe Kontrollen selbst zu finanzieren? Polemisch gefragt: warum ist Gift spritzen normal und Bio suspekt?
Aber was bedeutet Bio eigentlich? Das Wort leitet sich vom Griechischen ab und bedeutet „Leben“. Das ist auch der wesentliche Unterschied zum konventionellen Landbau: während Konventionelle vielerlei Hilfsmittelchen wie Kunst-Dünger, Pestizide (Tiergift), Herbizide (Pflanzengift) und Fungizide (Pilzgift) einsetzen dürfen, muss der/die biologisch Wirtschaftende auf das „Leben“ setzen, anstatt es zu vergiften. Bio-Landwirt*innen versuchen es zu fördern: mit Kompost, Mist, Begrünungen etc. Das geförderte Leben (Regenwürmer, Anthropoden, Pilze, Bakterien etc.) übernimmt dann die Düngung, reguliert Krankheiten, Schädlinge und dergleichen. Im Idealfall. Der ist allerdings scheinbar selten geworden und so dürfen heutzutage auch viele „Gifte“ im Biolandbau eingesetzt werden, allerdings meist „harmlosere“ Naturprodukte.
Nicht ohne Grund sind viele Menschen skeptisch geworden, ob Bio heute noch Bio ist: seit die Supermärkte voll damit sind, ist es auch billiger geworden. Viel mehr Menschen greifen heute zu Bio-Produkten und gleichzeitig war die Skepsis noch nie so groß, denn die Supermarkt-Belieferer mussten wachsen wie ihre konventionellen Nachbarn. Sie mussten der steigenden Konkurrenz und dem Preisdruck standhalten, fahren immer größere Maschinen, beuten teilweise Arbeitskräfte aus, haben oft große Humusverluste, spritzen Neem und andere Bio-Gifte gegen zunehmende Schädlinge. Bewusste Konsument*innen finden das nicht gut. Doch Bio ist es trotzdem.
Doch wenn auch Bio-Landwirt*innen Umwelt und Menschen ausbeuten können, was wird dann überhaupt kontrolliert? Die Bio-Kontrollen im Gemüsebau fokussieren sich hauptsächlich auf das Papierzeugs: hat man die Rechnungen aller Betriebsmittel zusammen? Ist der „Giftschrank“ (auch den gibts in Bio) ordnungsgemäß mit einem Schloss versehen? Stimmen Dokumentation und Realität zusammen, sofern überprüfbar? War das Saatgut auch Bio?
Ja, ist denn unser Saatgut Bio, frage ich mich? Würden wir eine Kontrolle bestehen?
Rosa und ich haben unser Saatgut zu einem guten Teil bei unseren vorherigen Anstellungen bei anderen Bio-Betrieben gesammelt. Ich war teilweise sogar für die Saatgutvermehrung zuständig. So durften wir uns auch einiges mitnehmen. Allerdings haben wir davon keine Rechnung. Manches Saatgut habe ich mir auch selbst im Privatgarten vermehrt. Oder wir haben es von Freund*innen geschenkt bekommen.
Die Bio-Zertifizierung würde es uns aber verbieten dieses Saatgut zu verwenden. Ohne Rechnung, können wir nicht beweisen, dass es Bio war.
Für uns würde es also bedeuten: Adieu sagen zum eigenen Saatgut und steigende Kosten, da wir viel Saatgut kaufen müssten, das wir eigentlich besitzen. Spätestens bei diesem Gedanken haben wir uns gefragt: ist es das wirklich wert? Glauben die Menschen nur an das Bio, wo ein Logo die Kontrolle garantiert?
Darüber hinaus ist die Dokumentationsarbeit sehr penibel zu machen. Wir müssten jede einzelne Kultur auf jedem Beet immer dokumentieren – bei einer kleinen Marktgärtnerei wie wir es sind ist das ein großer bürokratischer Aufwand. Man könnte sagen, der sollte durch die Bio-Förderung finanziell ausgeglichen werden. Allerdings sind Förderungen immer Flächen gebunden. Das heißt um so größer, desto mehr Förderung. Kleine Betriebe wie wir, bekommen so wenig, dass sich die Dokumentationsarbeit kaum lohnt. Außerdem führt es zum berühmt gewordenen „Wachse oder Weiche“, denn viele Landwirt*innen erwirtschaften ihr Einkommen zu gutem Teil durch ihren Flächenbesitz, für den sie Förderungen kassieren. Das sind selten die Nachhaltigsten. Die Nachhaltigen, das sind die kleinen Vielfaltsbetriebe, die durch diese Fördergebung allerdings einen Nachteil haben und immer mehr aussterben.
Bitte nicht falsch verstehen: ich bin keiner, der glaubt „Bio sei ein Betrug“ und die Kontrollen bringen gar nichts. Ich glaube vielmehr, die meisten Biobetriebe machen ihre Arbeit gut und tun was sie können. Doch es gibt strukturelle Ungleichheiten und Probleme, die es Bio-Landwirt*innen schwer machen, wirklich nachhaltig zu wirtschaften. Umso kleiner ein Betrieb, desto größer spürt er oft die Nachteile des Zertifizierungs-Systems. Und umso mehr man in marktwirtschaftliche Zwänge kommt, desto mehr muss man sich vom eigentlich wichtigsten Prinzip verabschieden: Die Erhaltung der Natur und deren Artenvielfalt (unserer Lebensgrundlage) muss Vorrang haben! Alles andere macht uns auf lange Sicht kaputt.
Bis vor kurzem dachten wir noch, wir würden uns Bio zertifizieren lassen, ohne aber den Förderantrag zu stellen (eben weil der bürokratische Aufwand durch die Förderung kaum gedeckt wird). Mittlerweile sind uns so viele mehr Nachteile und Probleme im System bewusst geworden, dass wir überlegen zumindest die erste Saison ohne Zertifizierung zu machen. Wir werden ja sehen, ob man uns trotzdem Vertrauen schenkt oder nicht.
Wir freuen uns auch über Rückmeldungen zu unseren Überlegungen! Was denkt ihr darüber? Ist euch die Bio-Zertifizierung wichtig? Welche Möglichkeiten sehr ihr in dieser Situation?
