Frieden finden

Wer für Frieden eintritt, macht sich oft viele Feinde. Denn für Politik, Wirtschaft und Verbreiter*innen gewisser Ideologien kann Krieg auch sehr bereichernd sein. Wer aber wirklich für Frieden eintritt, akzeptiert auch keine Feindschaft. Und einseitige Feindschaft zermürbt an der Liebe, die ihr entgegengebracht wird. So will auch ich wagen, in diesem Text über Frieden zu sprechen und hoffe, mir nicht zu viele Feinde damit zu machen.


„Dann bist du nicht gut informiert.“

Ein Satz, den ich neuerdings immer wieder höre. Der Kontext: Eins der großen Themen unsrer Zeit, sei es Krieg, Klimakrise oder der Umgang mit einem Virus. All diese Themen haben die Gesellschaft tief gespalten. Auf einem Pol Menschen, die sich am wissenschaftlichen Mainstream und an offiziellen Erzählungen festhalten. Auf dem anderen Pol Menschen, die ihre Informationen aus „alternativen“ Quellen beziehen, seien es Mitmenschen, Telegram Gruppen, diverse Websites. Und beide Pole haben die Wahrheit für sich gepachtet und wer ihrer Erzählung der leisesten Skepsis angedeihen lässt, darf diesen Satz hören: „Dann bist du nicht gut informiert.“
Denn „Information“ beschreibt offenbar nur noch das, was man selbst für richtig hält.

Für mich ist die Spaltung der Gesellschaft vielleicht die größte aller Krisen. Denn durch sie wird es unmöglich die vielen anderen Krisen überhaupt zu diskutieren, geschweige denn zu beheben.

Für Menschen, die sich nicht klar auf eine Seite schlagen, ist der Platz eng geworden. Von ihnen wird gefordert, sich zu positionieren, und als „Position“ gilt kaum was anderes als einer der Pole. Wer sagt, „ich bin nicht für die Ukraine, nicht für Russland, sondern für die leidenden Menschen und den Frieden“, der wird gerne als feige und realitätsfern betrachtet. „Real“ sind offenbar nur Nationalstaaten und keine Menschen. Außerdem wird man automatisch dem anderen Pol zugeordnet. Die Logik dahinter: Wer nicht für das Gleiche ist, wie ich, der ist gegen mich. Diese Logik wird gerne auch als Kriegsrhetorik bezeichnet und ist heute weit verbreitet.

Gerne wird auch behauptet: Keine Position ist auch eine Position. Wer beispielsweise nicht für die Ukraine ist, ist automatisch dafür, dass Russland den Krieg gewinnen soll, weil sie die stärkere Konfliktpartei seien. Doch warum ist es keine Position, für den Frieden zu sein? Ich denke, es ist eine sehr starke Position, die auch aktiv gelebt werden kann. Es gibt eine Vielzahl möglicher deeskalierender Maßnahmen zum Wohl der Menschen: Vermittelnde Gespräche führen, Hilfsgüter und Helfer*innen bereitstellen, Flucht und Asyl gewähren, Soldat*innen zur Desertation ermutigen, Menschen neue Perspektiven bieten, mit Kriegs-Betroffenen und/oder Expert*innen der Friedens- und Konfliktforschung Veranstaltungen organisieren und Lösungen ausarbeiten, um nur ein paar gängige Ideen vorzubringen. Ich bin sicherlich kein Friedens-Experte und meine Gefühle, Gedanken, Vorschläge mögen manchen als naiv erscheinen. Aber eine Position ist es allemal.

Wer für den Frieden ist, muss auch nicht bedingungslos gegen die Gewalt sein. Ich denke, es gibt Situationen, in denen Gewalt seinen Platz hat. Wer Pflanzen oder Tiere essen will, muss Gewalt anwenden. Wer sich vor menschlichen angriffen schützen möchte, muss manchmal zu Gewalt greifen, um sich selbst zu verteidigen. Gewalt kann manchmal sinnvoll sein. Sie sollte aber niemals Selbstzweck sein. Und oft ist sie eine schlechte Wahl, auch wenn manche Ziele damit erreicht werden können.

Ich vertrete also eine Position. Und gleichzeitig hinterfrage ich es, eine Position „zu haben“. Von einer Position Besitz ergreifen, sie sich aneignen, so sehr, dass es wie ein Teil von einem ist. Wer das tut, dem wird es schwer fallen überhaupt noch Offenheit für etwas Anderes aufzubringen. Für viele ist ihre Meinung zu etwas geworden, dessen Hinterfragung so radikal wäre, wie das Hinterfragen der eigenen Existenz. Nicht einmal die Realität kann sie noch ent-täuschen, also von der Selbsttäuschung befreien. Sinngemäß: wenn ich felsenfest überzeugt bin, dass heute die Sonne nicht scheinen kann, weil der Wetterbericht oder mein Gefühl gesagt haben, es kann nicht so sein, dann muss ich mich eben in ein dunkles Kämmerchen sperren, wo ich nicht mitbekomme, dass die Sonne sich nicht an die Regeln gehalten hat.
Es ist schön, gut und oft auch wichtig eine Position zu beziehen. Noch wichtiger ist es, Offenheit zu wahren und bereit sein, sie wieder zu verlassen; ehrlich mit sich selbst zu sein, auch wenn es vielleicht schmerzt, weil das Ego gerne recht gehabt hätte.

Das Kriegsthema oben war ein Beispiel. Ich will aber nicht zu sehr darin eintauchen. Darum geht es hier gar nicht. Es geht nicht um Ideologien, sondern ums menschliche Miteinander. Ein sehr inspirierender Mensch und Friedensaktivist, Thich Nhat Hanh, hat sinngemäß gesagt: Wenn wir jemandem wirklich helfen wollen, so werden wir das nicht erreichen, indem wir der Person unsere Meinung aufzwingen. Was einem Menschen wirklich hilft ist Liebe und Mitgefühl, und das kann nur erreicht werden, wenn wir wirklich versuchen den Menschen tief zu verstehen. Nur wo Verstehen ist, ist Mitgefühl und Frieden möglich. Dieser Perspektive nach erscheint es mir manchmal fast schon revolutionär, wenn ich einem Menschen, der mich gerade von seiner Meinung überzeugen will, wirklich zuhöre. Wenn ich ihn frage: wie geht’s dir damit? Wovor hast du Angst? Was brauchst du, was brauchen andere, damit es besser geht? Wie kommst du zu deiner Meinung?
Nur, wenn ich das verstehe, kann ich auch die Meinung verstehen und vielleicht dem Menschen helfen, seinen Horizont zu erweitern. Das hilft auch, andere Wege zu finden die eigenen Sorgen, Wut, Träume Ausdruck zu verleihen. Ein anderer Ausdruck, als ein*e militante*r Vertreter*in einer Ideologie zu sein, die auf „Wahrheiten“ beruht, die für viele andere Menschen keine Wahrheiten sind.
Egal, wer gegen die Russen oder die Ukrainer ist. Wer versucht den Soldaten an der Front zu verstehen? Warum ist er dort? Ist er gern dort? Wird er gezwungen und möchte am liebsten weglaufen? Wer versucht, ihn zu verstehen, kann ihm vielleicht helfen.

Das bringt mich zum nächsten Thema: Was ist Wahrheit? Was sind Fakten? Darüber sind sich Menschen heutzutage sehr unein. Manche halten für Wahrheit, was „die Wissenschaft“ publiziert. Manche glauben nur an „individuelle Wahrheiten“ oder glauben, die Wahrheit intuitiv erfühlen zu können. Gemein ist aber fast allen, den alleinigen Wahrheitsanspruch zu besitzen. Manchmal glaube ich, fehlt es unserer Gesellschaft an einem gewissen Demut gegenüber der komplexen Welt und unserem bescheidenem menschlichen Dasein und unseren Fähigkeiten. Eine einst oft zitierte Weisheit des Philosophen Socrates scheint heute wie vergessen: „Denn von mir selbst wusste ich, dass ich gar nichts weiß …“ – heute glaubt fast jeder alles zu wissen. Socrates war wohl ein dummer alter Mann…

Zu sagen „ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist keine Flucht davor sich zu positionieren. Die Position lautet vielmehr: ich gestehe mir ein, dass meine persönlichen Erkenntnisse sehr bescheiden sind; dass vieles was ich „weiß“ eigentlich nur Informationen sind, die ich gehört/gelesen habe; dass selbst Sinneswahrnehmungen manchmal trügerisch sind. Es ist eine Anerkennung, das Erkenntnistheorie ein komplexes Problem ist und es keine allgemein gültige Definition gibt, wie man eine Erkenntnis erreichen kann. Auch heute, lange Zeit nach Socrates, ist es noch immer eine wissenschaftliche Streitfrage in der Philosophie, wie man wahre Erkenntnis erlangen kann und ob es überhaupt möglich ist.
Eigentlich wissen wir auch nicht, ob Socrates das jemals genau so gesagt hat wie oben zitiert und ob er es so gemeint hat wie ich. Philosophie-Expert*innen interpretieren ihn eher so: „Die wahre menschliche Weisheit ist es, sich des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten bewusst zu sein.“ Es geht also mehr um Tugenden und die Fragen nach dem Guten.

Letztendlich ist es vielleicht auch egal, wie es gemeint war. Es zählt, was bei uns ankommt. Bei mir ist es eine vorsichtige Grundhaltung, die nicht alles für bare Münze nimmt. Eine Grundhaltung die sich ohne Scham eingesteht: ich kann die komplexen Zusammenhänge einer Klimakrise vielleicht nicht alle verstehen. Aber ich kann verstehen, dass wir als Menschen in ein komplexes Ökosystem eingebunden sind. Ich kann es selbst beobachten, wie sehr schon eine kleine menschliche Handlung dieses Ökosystem zum Wanken bringen kann. Und ich kann beobachten, dass eine zu starke Beeinträchtigung sogar unsere Lebensgrundlage zerstören kann. Jede*r kann sehen, dass ein stark verdichteter oder gar versiegelter Boden keine Lebensmittel mehr hervorbringen kann, kein lebenspendendes Wasser mehr aufnehmen kann. Jede*r kann nachvollziehen, dass Menschen in einem Krieg leiden, dass der Tod eines Familienmitglieds sich schrecklich anfühlt.

Es wäre naheliegend für uns alle, unsere Lebensgrundlage nach bestem Wissen und Fühlen nicht zu zerstören. Ebenso naheliegend scheint es mir, Frieden in unserem Umfeld zu fördern und so auch in der weiten Welt. Der Frieden beginnt nicht in der Ukraine oder im nahen Osten, sondern in unserem Herzen, unseren Familien und Nachbarschaften.

Tobias


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